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Was ist erzählen?

Maria Weidinger • Juni 09, 2022

Was braucht es dazu, wann wurde erzählt und ist es eine Kunst?

Ich erzähle, das heißt, ich trage Geschichten und Märchen frei vor. Ich habe kein Buch oder Text, an dem ich mich festhalte. Ich erzähle und die Geschichten und Märchen werden lebendig. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass ZuhörerInnen nach einer Veranstaltung, in der sie anderthalb Stunden lang erlebt haben, dass ich auf der Bühne ohne schriftlichen Text gesprochen habe, zu mir kommen und komplimentieren: „Schön haben Sie vorgelesen!“ Darauf kann ich nur erwidern: „ Es freut mich, dass Ihnen gefallen hat, wie ich ERZÄHLT habe.“ Das passiert nicht nur mir, ich höre es auch immer wieder von anderen ErzählerInnen, deshalb möchte ich etwas übers erzählen erzählen.

 

Was also ist mündliches Erzählen genau? Was erfordert es und wann ist es eine Kunst?

Erzählen braucht zuhören 

In der logopädischen Fortbildung „Erzählfähigkeit" wurde uns Teilnehmerinnen bewusst gemacht, dass der Mensch das erste Mal erzählt in dem Moment seiner Geburt. Mit seinem Schrei (der immer der Ton a‘ ist – das nur nebenbei) erzählt das Kind von seiner Existenz und wie es ihm geht. Eltern hören zu und beobachten ihr Kind, um zu erkennen, was es braucht, wie es ihm geht. Eltern reagieren auf die kindlichen Laute mit eigenen Lauten und Worten, so entsteht ein Miteinander.

 

In meiner logopädischen Praxis habe ich alle meine Patienten gefragt: „Wie geht es dir? Wie geht es Ihnen? Erzähl mal...“ Bei vielen Sprach- oder Sprechstörungen oder bei körperlich und/oder geistig gehandicapten Kindern braucht es intensives Zuhören, um zu verstehen. So entstand meist ein Miteinander und Vertrauen.

 

Wenn ich heute vor Publikum erzähle entsteht ebenfalls ein Miteinander. Erzählen ist direkt - da ist kein anderes Medium dazwischen, ich erzähle und sehe und höre die Reaktionen im Publikum, kann diese Reaktionen aufnehmen und darauf eingehen oder die Zuhörer auch einbeziehen in die Geschichte. So entsteht ein Miteinander. So kam ich auch zu meinem Leitspruch: "Lass meine Worte in dein Ohr und zu deinem Herzen wandern".


Zuhören können nur Zuhörer. Wenn keiner kommt, hört mir keiner zu. Manchmal habe ich bei Märchenspaziergängen tatsächlich nur 1 Zuhörerin (hier die weibliche Form, weil überwiegend Frauen kommen). Während Corona hat es viele ErzählerInnen getroffen, die Zuhörer haben gefehlt, dafür sind neue Formen entstanden, das Erzählen zu den Hörern zu bringen. Dazu unten mehr.

Erzählen braucht schauspielen

Erzählt wird nicht nur durch die gesprochenen Worte, auch über die Körpersprache mit Mimik und Gestik, über Intonation, Stimmfarbe, Stimmhöhe, Lautstärke. Ein bißchen Schauspiel gehört dazu, in die verschiedenen Märchenfiguren, sogar Gegenstände zu schlüpfen. Das kann richtig Spaß machen, auch mal einen Giftzwerg darzustellen. Oder versuch mal, als bullernder Ofen zu sprechen. Auch die sprachliche und körperliche Haltung von König und Königin unterscheiden sich. Ich durfte das im Seminar "Märchen spielen" alles ausprobieren.

Erzählen braucht Raum und Zeit

Es ist toll, auf einer richtigen Bühne zu stehen. Es reicht aber ein wenig Platz, ein Sitzplatz und ausreichend Abstand zum Publikum, so dass ich alle sehen kann und umgekehrt. Märchenspaziergänge und -wanderungen mag ich gerne. Da wird die Natur zur Bühne.

Auch Gelegenheiten gibt es zahlreich. Manchmal fällt mir in einem Gespräch eine passende Geschichte ein und manchmal kann ich mich nicht zurückhalten, die dann auch zu erzählen. Ich habe schon auf der Bühne, in der Bücherei, in der KiTa, im Wald, im Biergarten, im Museum, bei der Geburtstagsfeier, am Lagerfeuer, im Seniorenheim erzählt. Handy ausschalten, zurücklehnen und lauschen und genießen! Das ist die beste Zeit für das Erzählen.

Erzählen in allen Zeiten 

Es wird davon ausgegangen, dass schon frühe Menschen erzählt haben, wenn sie um die Lagerfeuer saßen. 30.000 Jahre alte Höhlenmalerei erzählt in Bildern, was die Menschen gesehen oder erlebt haben. Warum sollen sie also nicht in ihrer Sprache, mit Mimik und Körpersprache den Familienmitgliedern von ihren Erlebnissen erzählt haben? Wann genau das stattfand, darüber ist sich die Vorgeschichtsforschung noch uneins. Erst mit komplexer Sprache war es möglich, sich die Welt um sich herum in Geschichten zu erklären und von Träumen und Wünschen und Emotionen zu erzählen. Dingen also, die nicht sichtbar und greifbar und erfassbar sind, die uns Menschen aber tief bewegen.

 

Schöpfungsmythen, Göttergeschichten und Märchen entstanden rund um den Erdball. In vielen Kulturen ist das Erzählen ein hoch geschätzter Beruf und auch heute noch etabliert. Auch in Europa zogen im Mittelalter Erzähler von Stadt zu Stadt, von Markt zu Markt und an die Königshöfe, um zu unterhalten. In Spinnstuben haben Frauen Klatsch und Tratsch und Geschichten und Märchen ausgetauscht. In Familien wurde erzählt, und alle hörten zu

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Erzählen von Märchen verpönt. Märchen wurden wegen ihrer vermeintlichen Rollenklischees und ihrer Verwendung in der NS-Propaganda abgelehnt. Seit ein paar Jahrzehnten erfährt es in unserer Kultur durch die psychologische Aufarbeitung wieder Aufmerksamkeit. Viele Erwachsene sind überrascht, dass Ihnen das Zuhören gut tut, dass es nicht nur für Kinder ist. Erzählfestivals, wie zum Beispiel das „Zauberwort“-ErzählKunstFestival in Nürnberg zeigen die Vielfalt und die Lebendigkeit der mündlichen Erzähltradition. Als Teil der ErzählerInnengruppen „Die MärchenReicher“ und der „MÄRCHENERZÄHLEREI“ gestalte ich mit anderen gemeinsam die erzählerische Vielfalt. Überrascht es, dass es so viele Erzählerinnen und Erzähler gibt? Es lohnt sich, einmal zu googeln, welche ErzählerIn es bei dir in der Umgebung gibt.


Corona hat das erzählen blockiert. Die Zuhörer durften nicht kommen. Was also tun? Viele, und auch ich, sind dazu übergegangen, Märchen aufzusprechen und Audio-Dateien zu versenden. Andere haben sich mit der Video-Technik beschäftigt. Viele waren sehr dankbar, in der Krise Märchen und Geschichten hören zu können. Ersetzen kann es eine persönliche Erzählveranstaltung aber nicht.

 

Die moderne Erzählform Poetry Slam zieht seit Jahren viele Menschen an. Doch unterscheidet sich diese Erzählform entscheidend von dem was ich mache. Denn der Poetry Slammer trägt einen festen Text vor. Und damit bin ich beim nächsten Punkt dieses Blogartikels.

Erzählen ist eine Kunst

 Was ist ‚Kunst‘?

Auszug aus einem Online-Lexikon:

"Kunst Substantiv, feminin [die]
a. schöpferisches Gestalten aus den verschiedensten Materialien oder mit den Mitteln der Sprache, der Töne in Auseinandersetzung mit Natur und Welt 'die bildende Kunst'
b. [ohne Plural] einzelnes Werk, Gesamtheit der Werke eines Künstlers, einer Epoche o. Ä.; künstlerisches Schaffen 'die antike, moderne, mittelalterliche, europäische Kunst' "


Wenn ich also einen Märchentext nehme, mich damit auseinandersetze, ihn mir zu eigen mache, meine Worte, meine Stimme, meine Körpersprache darein gebe, mache ich ihn zu einem Kunstwerk. Dieser künstlerische Prozess dauert unterschiedlich lange. Ich kann ein Märchen nur einmal gelesen haben und gut erzählen. Manchmal begleitet mich ein Märchen über Jahre. Präsentiert wird das Kunstwerk im Moment des Erzählens. Und weil wieder eine gewisse Zeit vergeht von einem Erzählmoment desselben Märchens bis zum nächsten Mal erscheint es möglicherweise als neues Kunstwerk. Denn es fließen neue Erfahrungen, Gedanken und Methoden ein.

 

Die Methodik des Erzählens kann jeder erlernen. Dazu gibt es Ausbildungen, ich selbst war an der Märchenschule des ‚Märchenzentrum Dornrosen e.V.‘, die es leider nicht mehr gibt. In dem Elterntraining „Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung“ leite ich Eltern dazu an, sich beim Bilderbuch betrachten von den dort abgedruckten Texten zu lösen und selbst mit dem Kind ins erzählen zu kommen.

 

Zur Methodik des Erzählens gehören Textauswahl, passende Mimik und Gestik, Wortwahl, Stimmtraining, Gestaltung eines Rahmenprogramms, Gestaltung eines Märchentisches und passende Deko. Nicht zuletzt, wie ich mich selbst kleide und ob ich mich schminke. Aus der Fülle der Möglichkeiten gestaltet sich im Lauf der Zeit meine Künstlernatur heraus.

 

Erzählen bringt mir Freude

Ich bin stolz darauf, diese Tradition fortzuführen. Erzählen bringt mir Freude (Spaß wäre das falsche Wort). Ich beschäftige mich gern damit, die Märchen und Geschichten aus dem Buch zu holen und lebendig werden zu lassen und mit Lampenfieber (das auch dazu gehört)  genieße ich es, vor Publikum zu stehen.


Wie es dazu kam, dass ich Erzählerin wurde, berichte ich in meinem Blogartikel „10 Lebensstationen zur Märchenerzählerin“.


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